«Für mich ist Schweden Freiheit und Natur. Den Dichtestress in der Schweiz finde ich krass und auch den Nebel vermisse ich hier nicht.» Tobias Keller macht gleich zu Beginn des Telefoninterviews klar, dass er sich im südschwedischen Västervik an der Ostsee pudelwohl fühlt. Der 49-Jährige betont, dass die Schweden im Umgang deutlich lockerer seien. «Das Leben im Norden ist viel entspannter. Hier haben wir mehr Zeit, um Familie und Arbeit zu kombinieren und um das Leben zu geniessen.»
Über Politik wird nicht gesprochen
Er musste sich aber auch an einiges zuerst gewöhnen. Den Umstand zum Beispiel, dass in Schweden nicht oder kaum über Politik gesprochen wird. Das sei für ihn, der in der Schweiz als Radio- und Printjournalist das Politgeschehen aus nächster Nähe begleitete, eine Umstellung gewesen, gibt er zu: «Wenn du bei den Schweden mit politischen Themen kommst, kann es passieren, dass dein Gegenüber sagt: ‹Jetzt haben wir doch gerade zusammen ein feines Mittagessen. Lass uns das geniessen.› Und dann ist das Thema Politik beendet.» Als sehr politisierter Mensch sei es für ihn am Anfang enorm schwierig gewesen, dies zu akzeptieren. Unterdessen geniesse er diese Distanz aber auch: «Es zeigt mir, dass ich mich nicht immer um alles kümmern muss.» Auch wenn Schweden seine Probleme habe, überwiegen für ihn die Vorteile des nördlichen Landes. Er habe gelernt, dass ein zentralisierter Staat durchaus seine Vorzüge hat, weil vieles einfacher und schneller gehe. Das falle ihm unter anderem im Bereich der digitalen Behörden-Organisation auf: «Die Schweiz ist in Sachen Digitalisierung im Vergleich zu Schweden im Bronzezeitalter. Es geht einfach viel zu lange, beispielsweise mit einer digitalen ID.» Auf der anderen Seite seien die Schweden im Alltag bei gewissen Dingen etwas schwerfälliger. Anpacken sei nicht immer die erste Option: «Hier wird zuerst ewig drüber nachgedacht und diskutiert, bevor etwas gemacht wird. Da können Sitzungen abgehalten werden, weil Müll rumliegt, statt dass jemand den Müll einfach kurz zusammen wischt und das Problem erledigt ist.»
Journalismus als Hobby
In seiner neuen Heimat arbeitet Tobias Keller nicht mehr als Journalist, sondern begleitet für die staatliche Arbeitsvermittlung ein Projekt des Europäischen Sozialfonds. Zum Schreiben und Berichten kommt er dennoch ab und zu. Immer wieder wird er von «Radio 1» angefragt, um im Corona-Talk von Roger Schawinski über die aktuelle Situation in Schweden zu berichten, auf «Blick online» wurde er vor Weihnachten ebenfalls zur Corona-Situation in Schweden befragt und auch im Schweizer Radio «SRF1» oder in der «Schweiz am Wochenende» gab er schon Auskunft über das Leben im hohen Norden. In seiner Freizeit seiner alten Passion nachgehen zu können, mache ihm viel Spass, sagt der ehemalige Journalist, der schon für «Radio 24», «Radio Munot», die «Handelszeitung» oder «Radio Z» gearbeitet hat. Und er nimmt auch kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, aus seiner Sicht Missstände in der Schweiz anzusprechen: «Ich habe den schwedischen Pass. Das Einbürgerungsverfahren hier ist für alle gleich. Das ist fair. So wie die Einbürgerungsverfahren in der Schweiz teilweise ablaufen, ist es einfach nur erniedrigend und menschenverachtend. Da schäme ich mich im Ausland dafür.» Auch wenn er in der Schweiz noch Familie und viele Freunde habe, stehe eine Rückkehr aktuell nicht zur Debatte. Er fühle sich mit seiner Frau und den Kindern wohl in Schweden, gehe regelmässig auf die Jagd, verbringe seine Freizeit als Imker oder Fischer und pflege seinen Schrebergarten – alles Dinge, die der Schweiz nicht so fern scheinen. Und so zeigt er sich am Ende des Gesprächs auch versöhnlich mit seiner alten Heimat: «Hier in Västervik hat es etwa zehn Restaurants, die alle Hamburger verkaufen, aber so richtig gutes Essen gibt es weniger. Als ich über die Festtage in der Schweiz war, genoss ich das richtig.»