«Bereits seit langem ist es mein grösster Wunsch, Patient:innen die bestmögliche Betreuung anbieten zu können», erklärt Hadjer Benbrih, Geschäftsführerin der psychiatrischen Spitex Libra in Schaffhausen. Sie habe selbst miterlebt, wie sogenannte Drehtürpatienten wieder anklopften, weil sie die Medikamente nicht genommen oder zu Hause keine Stabilität gefunden hatten. «Die Nachbetreuung ist sehr wichtig und muss deshalb gut funktionieren.» Nach Corona habe sie zudem feststellen müssen, dass laufend mehr Menschen erkranken, aber nicht genügend Unterstützung existiere. «Dadurch habe ich den Entschluss gefasst, selbst ein Unternehmen zu gründen», sagt Hadjer Benbrih, diplomierte Pflegefachfrau HF dem «Bock».
Der Mensch steht im Fokus
Die Klientel der Spitex Libra besteht aus Patienten mit einer psychiatrischen Diagnose. «Unser Fokus liegt auf dem Zwischenmenschlichen sowie dem Erarbeiten und Beibringen von Strategien zur Bewältigung der Zukunft», berichtet die Geschäftsführerin. Hin und wieder würden sie ambulante Massnahmen, wie die Verabreichung einer Spritze, durchführen oder auch unter Aufsicht Medikamente geben. Die Körperpflege sei hingegen Sache der «klassischen» Spitex. «Wir leiten und unterstützen den Patienten. Das Reden steht im Mittelpunkt.» Zudem mache es einen grossen Unterschied, ob die Mitarbeitenden einer Spitex in einem Spital oder einer psychiatrischen Einrichtung Erfahrungen gesammelt haben. «Bei unserer Tätigkeit braucht es ein geschultes Auge in Bezug auf das Psychiatrische», hält Hadjer Benbrih fest.
Um von der psychiatrischen Spitex Libra betreut zu werden, ist weder das Alter relevant noch muss eine Diagnose bestehen. Wenn sich eine Person überfordert fühlt oder in einer akuten Krise steckt, darf sie sich melden. «Es braucht nicht zwingend einen vorhergegangenen Klinikaufenthalt», fügt Sina Leuzinger, HR-Verantwortliche und Backofficemitarbeiterin, hinzu.
Vom Erstgespräch bis zur Hilfeleistung
Julie Chollet und Hadjer Benbrih führen die Erstgespräche durch. Darin soll die Situation erläutert werden, schildert die Geschäftsführerin den Ablauf: «Wenn Bedarf besteht, können wir die Person in unsere Kartei aufnehmen. Manchmal reicht bereits ein Gespräch oder die Vermittlung entsprechender Angebote.»
Die Klient:innen profitieren vom umfangreichen Wissensschatz und der vielfältigen Hilfestellung eines zehnköpfigen Teams, das sich grösstenteils schon länger kennt. Wenn der Wunsch bestehe, könne das Treffen auch in einem Café oder während eines Spaziergangs stattfinden. Für Patient:innen mit Angst- oder Zwangsstörungen könne das Expositionstraining zum Beispiel beim Schwimmen durchgeführt werden.
Das Unternehmen steht am Anfang seines Weges. Vieles müsse sich zuerst einpendeln. Zurzeit bietet die Spitex Libra ihre Dienste in den Kantonen Schaffhausen und Zürich an. Im Thurgau sei es schwer, eine Bewilligung zu erhalten – eine Lösung werde erarbeitet.
Zum Angebot gehören bereits die Aromatherapie, Akupunktur und Therapie mit dem schottischen Highlandpony Sandora. Zu gegebener Zeit soll sich ein Therapiehund dazugesellen. Als der Name des Pferdes erwähnt wird, fangen die Augen der diplomierten Pflegefachfrau HF Julie Chollet an zu leuchten – verständlich, denn es ist auch ihres: «Sandora ist eine gutmütige und liebe Seele. Wenn eine Person etwa gestresst ist, wird sie ganz ruhig, um dem entgegenzuwirken.» Ob darauf geritten oder das Tier nur gestreichelt werden soll, liege bei den Patienten. «Ein Mädchen, das jeweils zu Sandora kommt, hat anfänglich kaum ein Wort mit mir gesprochen. Durch das Pony fing sie an zu strahlen und zu erzählen.»
Unverhältnismässige Wartezeiten
«Früher gab es in Schaffhausen einen Amts- oder Bezirksarzt, der zu den Patient:innen nach Hause ging. Aktuell hat es nicht einmal genügend Therapeut:innen», so Hadjer Benbrih. Deshalb versuche Sina Leuzinger seit Anfang Mai die Lancierung eines Pikettdienstes voranzutreiben. «Aktuell sind die Wartezeiten für einen SOS-Arzt bis zu zehn Stunden. Für manche Person in einer akuten Krise ist das einfach zu lange.»
Nebst dem Fachkräftemangel sei auch die Zeit eine Knacknuss. Sie sei nicht so getaktet wie bei der klassischen Spitex, aber dennoch stets ein Thema. Verständlicherweise hätten die Patient:innen einen hohen Redebedarf. Da die Klient:innen über die Krankenkasse abgerechnet werden, könne man dennoch nicht mehrere Stunden pro Person aufwenden. «Wir wollen den Bedürfnissen unserer Patient:innen gerecht werden. Gleichzeitig möchten wir keinen Druck von Seiten der Krankenkasse bekommen», führt Hadjer Benbrih aus.
Normalerweise fühle sich eine Person in trauter Umgebung wohler, als etwa in einem Therapiezimmer. Mit dem Besuch zu Hause oder einem Spaziergang an der frischen Luft könne unnötigem Druck oder Stress entgegengewirkt werden.
Eigene Balance finden
«Ich tanke Energie durch die Unterstützung und Wertschätzung meines Teams», so die Geschäftsführerin. Im Vergleich zu anderen Berufen oder Mitarbeitenden in Spitälern und Kliniken könnten sie nach einer gewissen Zeit Person und Ort wechseln und so in gewisser Weise auch die Gedanken dalassen. «Schlussendlich ist es eine Kopfsache. Und die lernt man nur über die Jahre durch Berufserfahrung.»
Vision für die Zukunft
«Es ist mir ein Anliegen, dass Krankheiten, die auf den ersten Blick unsichtbar sind, in der Gesellschaft nicht mehr stigmatisiert werden», sagt Hadjer Benbrih bestimmt und führt weiter aus: «Eine depressive Person wird noch nicht gleich behandelt, wie jemand mit einem sichtbaren Gebrechen.»