«Ich könnte morgen aufstehen und blind sein», sagt Vanessa Rambone. Die 37-Jährige hat Multiple Sklerose (MS), eine chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems. In der letzten Ausgabe des «Bock» haben wir ihren Vater kennengelernt. Bei ihm ist die Krankheit schon weit fortgeschritten. 24 Stunden am Tag ist er auf Hilfe angewiesen. Vanessa Rambone sieht man die Krankheit nicht an. Genauso wenig ihrer Tante Maria Cerjek. Auch die 59-Jährige hat MS. Dass die beiden Frauen auf den ersten Blick gesund wirken, sei kein Vorteil. Maria Cerjek: «Ich würde am liebsten immer ein T-Shirt tragen mit der Aufschrift <Ich habe MS!>» Dann würden die Leute vielleicht eher verstehen, warum sie in manchen Situation so reagiert, wie sie es eben tut.
Am PC ständig vertippt
Die Krankheit kam schleichend. Von den ersten Symptomen bis zur finalen Diagnose dauerte es Jahre. Maria Cerjek arbeitete anfangs noch Vollzeit in einer Leitungsposition in der Finanzbuchhaltung. Mit der Zeit musste sie ihr Pensum reduzieren. Am Schluss erhielt sie die Kündigung – offiziell wegen Umstrukturierungen. «Aber ich habe meinen Leistungsabfall selbst bemerkt», räumt sie ein. «Ständig habe ich mich vertippt, nichts konnte ich mir mehr merken», erzählt sie. «Ich führte ein Telefongespräch und nach dem Auflegen wusste ich nicht mehr, was ich besprochen hatte oder wer dran war.» Zu akzeptieren, dass sie nicht mehr die Powerfrau von früher war, fiel ihr sehr schwer. Vanessa Rambone nickt zustimmend. Sie selbst gab einen langjährigen Job in der Verwaltung auf – aus Angst vor allfälligen Konsequenzen. «Damals konnte ich niemandem von der Diagnose erzählen. Das war sehr belastend.» Heute arbeitet sie bei der AsFam, einer Organisation, die pflegende Angehörige unterstützt. Hier kann sie offen sagen, wenn es ihr nicht gut geht. «Ein ehemaliger Chef bei der AsFam in Kloten hat mal zu mir gesagt: <Es gibt Leute mit Stinkefüssen, das ist ein Problem. Mit MS können wir leben.>»
In der heissen Wanne gefroren
Meist geht es Vanessa Rambone gut. Doch ihre Beine machen nicht immer mit. Es fing an mit Gefühlsstörungen. «In der heissen Badewanne fühlte sich eines meiner Beine kalt an und draussen im Schnee, als wären es 40 Grad.» Heute liegt langes Stehen nicht mehr drin. «Ich kann nicht mit den Kindern auf die Eisbahn oder ans Fussballspiel», so die zweifache Mutter. Gerne würde sie öfters an Konzerte. «Aber das geht nur, wenn ich dort auch eine Sitzgelegenheit habe.» Maria Cerjek ergänzt: «Ich würde zum Beispiel gerne wieder mal ans Unterstadtfest, aber ich weiss, nach kurzer Zeit bin ich müde.» Diese Müdigkeit, die sogenannte Fatigue, ist ein typisches Symptom bei MS. «Da hilft kein Kaffee, keine Cola, da muss ich mich einfach hinlegen», sagt Maria Cerjek. Immer wieder wird sie so im Alltag ausgebremst. Neben der Müdigkeit ist da auch die fehlende Kraft. «Ich kann nicht einmal mehr das heisse Pastawasser ausleeren. Der Topf ist mir zu schwer», erzählt sie. Regelmässig lasse sie etwas fallen und es gebe Scherben. Den Haushalt könne sie schon lange nicht mehr so erledigen, wie sie es gewohnt sei. Und auch um ihre drei Enkel könne sie sich nicht so kümmern, wie sie es gerne täte. «Im Kopf weiss ich, wies geht, aber der Körper macht nicht mehr mit», sagt die 59-Jährige. «Mein jüngster Enkel ist erst ein Jahr alt und ich kann ihn nicht mehr hochheben.» Das sei psychisch sehr belastend. Dazu kommen die täglichen Schmerzen und Krämpfe.
Kraft durch die Familie
Einmal im Jahr kann sie in einen vierwöchigen Aufenthalt in die Rehaklinik in Valens, wo sie viele verschiedene Therapien bekommt. «Das ist einerseits anstrengend, aber ich merke auch, wie es mir guttut.» Kraft gibt den beiden Frauen auch die Unterstützung der Familie. Die noch jungen Kinder von Vanessa Rambone haben ihren ganz eigenen Weg gefunden, mit der Krankheit umzugehen. Wenn es Mami nicht gut geht, sagen sie, es sei wegen der «bösen Ruth». «Ich weiss gar nicht mehr, wie sie auf den Namen gekommen sind», sagt die Zweifachmami. «Aber mit Multiple Sklerose konnten sie nicht viel anfangen.»
Lebensfreude beibehalten
Hilfreich sei auch der Austausch mit Gleichgesinnten. In Schaffhausen gibt es eine MS-Regionalgruppe und eine Untergruppe für Betroffene, Angehörige und Interessierte. «Hier fühlen wir uns verstanden, können gemeinsam etwas unternehmen und es lustig haben», sagt Maria Cerjek. Diese Lebensfreude beizubehalten sei umso wichtiger, weil da stets dieses Ungewisse sei: «Keiner weiss, wie sich die Krankheit entwickelt und was als nächstes kommt». Im Januar hat Maria Cerjek nach einem Schub plötzlich Doppelbilder gesehen. «Das hat mir grosse Angst gemacht.» Dadurch hat sich aber auch der Verlauf ihrer MS geändert (siehe Box) und es haben sich neue Therapiemöglichkeiten aufgetan. Ob die neuen Medikamente dann tatsächlich wirken, bleibt unklar. «Es ist immer ein Abwägen», sagt sie. «Ist es sinnvoll, in meinem Alter ein Medikament zu nehmen, welches das Immunsystem schwächt und das Krebsrisiko erhöht?» Vanessa Rambone ergänzt: «Bei jedem neuen Medikament ist nicht klar, ob es mir tatsächlich hilft. Mit den Nebenwirkungen habe ich aber so oder so zu leben.» Auf der anderen Seite könne es sein, dass die Krankheit einen irreparablen Schaden hinterlasse, wenn man ein Medikament nicht nehme. «Dann bereut man, dass man es nicht genommen hat.»
Maria Cerjek hat im Sommer mit ihrer neuen Therapie angefangen. «Die Neurologen haben mich überzeugt. Ich hoffe, sie behalten Recht.»
Tipp: Am 7. Sept. findet auf dem Fronwagplatz von 11 bis 14 Uhr das Risotto-Essen der Gilde-Köche statt. Der Gesamterlös geht an die Schweizerische MS-Gesellschaft.