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Gesellschaft
20.05.2025

Prosit in die Abhängigkeit

Vom ersten Glas zum inneren Rückzug – wenn Alkohol langsam das Leben übernimmt.
Vom ersten Glas zum inneren Rückzug – wenn Alkohol langsam das Leben übernimmt. Bild: Ronny Bien/KI
Alkohol ist allgegenwärtig – am Apéro, an Feiern, im Alltag. Doch was als Genuss beginnt, kann schleichend zur Abhängigkeit werden. Oliver* erzählt seine Geschichte. Ehrlich, ohne Pathos und mit grossem Mut. Am Aktionstag Alkoholprobleme am Donnerstag, 22. Mai, lädt das Blaue Kreuz ab 18 Uhr zur offenen Diskussion ins Living Museum Schaffhausen.

«Ein Gläschen in Ehren kann niemand verwehren.» – «Prost und Stösschen.» Solche Sprüche sind tief in unserer Alltagskultur verankert. Ob an der Fasnacht mit Glühwein, bei Meisterfeiern mit Bierduschen, Sommerfesten mit Cocktails oder Apéros mit Wein – Alkohol ist ein ständiger Begleiter. Früher war es nicht unüblich, dass der Sohnemann den Bierschaum von Daddys Humpen wegschlürfen durfte, heute dürfte dieser «Brauch» wohl ausgestorben sein. Ganz anders während der Prohibition in den USA, als Alkohol strikt verboten war und sich der Konsum in den Untergrund verlagerte – ein historisches Beispiel dafür, wie stark Alkohol mit Gesellschaft und Kultur verwoben ist. Doch hinter dieser scheinbaren Normalität verbirgt sich eine ernste Problematik: Alkoholsucht. Gemäss BAG konsumieren in der Schweiz rund 83 Prozent der Bevölkerung ab 15 Jahren Alkohol. Etwa 16,4 Prozent trinken missbräuchlich, rund 4 Prozent leben mit chronisch risikoreichem Konsum.

 

Wie alles begann

Ein Suchtbetroffener ist Oliver*. Er steht mitten im Leben und ist gerne mit seiner Freundin auf Achse. Gerade kulturelle Veranstaltungen locken sie in die Altstadt, wo sie das reichhaltige Angebot geniessen. Er ist keiner, den man sofort mit einem Stigma in Verbindung bringt, wenn man ihn sieht. Und doch trägt Oliver seine persönliche Geschichte durch sein Leben, wie seine Beziehung zum Alkohol überborderte. «Die ersten Berührungen zum Alkohol entstehen durch den Reiz, es auszuprobieren, wie das fast jeder Jugendliche macht», sagt er rückblickend. Sein erstes Bier war «gruusig», nichts für ihn. Und doch blieb der erste Rausch haften. Irgendwie normal, irgendwie fremd. Der Verlust der Kontrolle war beängstigend. Also liess er es wieder sein, fürs Erste. Oliver war ein introvertierter Teenager, und der Alkohol schien ihm Türen zu öffnen. «Er machte mich locker, meine Schüchternheit wurde plötzlich nebensächlich.»

 

Der Einstieg in den Alltag

Getrunken hatte er praktisch gar nicht mehr, bis er in die Lehre kam. «Ich habe eine Ausbildung in einer bürgerlichen Küche absolviert», erzählt Oliver. Dort gehörte das Feierabendbier nach getaner Arbeit zur Pflicht, worauf Oliver jeweils mittrinken musste. Ausgelacht hätten sie ihn, hätte er einen Kaffee bestellt. «Und ich war noch nicht 16. Aber ich gewöhnte mich schnell daran und fand darin die erhoffte Entspannung. Auch weil es dann bald mal zwei oder drei Stangen wurden und man die Zeit mit dem Oberstift verhockte.» Oliver fand seine Leidenschaft zwischendurch auch in Alcopops wie Swizzly, Pesca-Fritz, Hooch und wie sie noch alle hiessen. Der süsse Geschmack, das grelle Design, die unscheinbare Gefahr. Der damalige Trend war so auffällig, dass 2004 sogar der Bundesrat mit einer Sondersteuer eingriff. Die Preisaufschläge sorgten für eine spürbare Marktverdrängung, aber da hatte Oliver längst Gefallen gefunden.

Wenn Alkohol langsam übernimmt und das Leben leise aus dem Ruder läuft. Bild: zVg.

Abgleiten im Zürcher Ausgang

Mit der Zeit verlagerte sich sein Lebensmittelpunkt nach Zürich. Arbeit in der Küche, und gleich daneben das Ausgangsleben. «Zuerst ging man einfach mal mit, aber irgendwann war es mehr als das. Es war nicht mehr das ‹Obenabe cho›, sondern schon fast Kampftrinken.» Von sich aus wäre er wohl gar nie so tief ins Nachtleben eingetaucht. Vielmehr war es der Gruppendruck. Man wollte dazugehören, nicht als Spielverderber dastehen. Grillabende, Partys, Apéros. «Ich war wie ein Gelegenheitstrinker und trank bei jeder Gelegenheit.» Als Minderjähriger fand sich immer ein älterer Kollege, der Nachschub besorgte. Mit 27 floss das erste Bier schon um die Mittagszeit. Je öfter der Alkohol Platz fand, desto mehr verdrängte er anderes. «Irgendwann reichte es nicht mehr bis zum nächsten Zahltag, sodass man entweder die Freunde zu sich nach Hause holte und mit Billigbier gamte oder trotzdem auf die Gasse ging, in der Hoffnung, irgendjemand spendiere dann schon mal eine Runde.» Die dritte Phase begann leise, aber bestimmend. «Da habe ich schon gemerkt, irgendwie suchst du es und brauchst es.» Alkohol wurde zur Rüstung. Es war die Phase, in der sich die Gewohnheit schleichend in eine chronische Abhängigkeit verwandelte. Die Emotionen verschwanden im Glas. Nicht mehr als exzessiver Rausch, sondern als Mittel, das dauerhafte Räuschchen stabil zu halten. Die Schulden wuchsen. «Ich habe die Steuern nicht mehr bezahlt. Ich gab lieber Geld aus für den Konsum, darum häufte sich der Schuldenberg über die Jahre stetig an.»

 

Der Wendepunkt

Eines Tages kam die Frage auf, ob es so weitergehen soll und wie er aus diesem Teufelskreis herauskäme. «Kurz darauf gab es bei mir einen ordentlichen Knall, was auf alles Auswirkungen hatte.» Über dieses Schlüsselerlebnis zu reden sei er noch nicht bereit, wohl gerade auch, weil es eine gröbere Kiste war. «Durch den Schock hatte ich zuhause einen Entzug machen wollen, doch ich scheiterte kläglich.» Er musste sich krankschreiben lassen und litt stark unter den körperlichen und psychischen Folgen. Es ging nicht mehr allein. Schliesslich wendete sich Oliver an die Fachstellen in Schaffhausen und begann eine psychiatrisch begleitete Therapie in der Forel Klinik in Zürich. «Es ist schwierig reinzukommen, da es in Schaffhausen zu wenig Fachstellen gibt», bemängelt er. Zehn Monate dauerte sein Entzug – eine lange und intensive Zeit, die er sich jedoch bewusst nahm. «Ich habe entschieden, dass ich mir diese Zeit nehme, um alles zu verarbeiten. Am Anfang hatte ich aber auch eine Trauerphase: Das Verabschieden vom Alkohol fühlte sich an, als wenn man eine Beziehung beendet.»

 

Zurück ins Leben

Heute, über zwei Jahre später, geht es ihm gut. Der Reiz, zu trinken, ist nicht verschwunden, aber er hat gelernt, ihn zu erkennen und damit umzugehen. Die alten Lustgefühle rufen zwar noch, aber sie verstummen mehr und mehr im Hintergrund. Manchmal gönnt er sich ein alkoholfreies Bier. «Es passiert dann nichts mehr im Kopf. Die Räusche haben sich verabschiedet.» Geblieben ist eine neue Klarheit und das Bedürfnis, etwas weiterzugeben. «Es braucht unbedingt mehr Sensibilität, denn man muss hinschauen. Die Gefahren der Sucht liegen viel näher, als man zu glauben meint. Das Hinschauen muss schon in den Schulen beginnen.»

Podiumsdiskussion

 

Am 22. Mai, ab 18 Uhr, findet der Nationale Aktionstag Alkoholprobleme unter dem Motto «verstehen statt verurteilen» statt. In Schaffhausen lädt das Blaue Kreuz Schaffhausen-Thurgau zu einer Podiumsdiskussion  im Living Museum, Repfergasse 17, ein. Fachleute aus dem Suchtbereich, Menschen mit Suchterfahrung und Angehörige werden über Alkoholkonsum und Stigmatisierung sprechen. Zudem werden kreative Werke von Betroffenen und Angehörigen gezeigt, die ihre Suchtgeschichte oder Mitbetroffenheit zum Ausdruck bringen. Der Event bietet eine einzigartige Möglichkeit, das Verständnis gegenüber Menschen in suchtbelasteten Situationen zu erweitern.

 

Weitere Informationen sind der folgenden Website zu entnehmen: shtg.blaueskreuz.ch

Ronny Bien, Schaffhausen24