Sie sind Landwirt und politisch aktiv. Warum haben Sie sich entschieden, das Präsidium des Bäuerlichen Sorgentelefons (BST) zu übernehmen – was hat Sie angesprochen?
Hans Jörg Rüegsegger, Landwirt und Nationalrat: Die Arbeitsgruppe für die Fusion, srakla und BST alt, suchte nach einer geeigneten Persönlichkeit aus dem Eidgenössischen Parlament als neuen Präsidenten für das BST neu. Sie fragten mich an, und nach kurze Bedenkzeit sagte ich zu, weil mich dieses Angebot für unsere Bauernfamilien überzeugt und ich die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des BST sah.
Wie nah gehen Ihnen die Geschichten, die am Sorgentelefon erzählt werden; besonders, weil Sie selbst aus der bäuerlichen Welt stammen?
Rüegsegger: Als Präsident ist man nie so nah an den Themen wie das Telefonteam. Aus den Fallbeispielen vom Team und aus meiner Erfahrung als Präsident der Berner Bauern, gehen gewisse Geschichten und Schicksale nicht ohne Weiteres an einem vorbei.
Laut Auswertungen ist die Arbeitsüberlastung neben Ehe- und Generationenkonflikten eines der häufigsten Themen. Wie erklären Sie sich diese starke Belastung in der heutigen Landwirtschaft?
Rüegsegger: Drei Faktoren, die bei dieser Frage umgehend als Antwort präsent sind - nebst der hohen Arbeitslast per se auf vielen Betrieben -, sind die sich ständig ändernden Rahmenbedingungen, besonders seitens Politik mit zusätzlichen Ansprüchen und Auflagen, der damit verbundene gestiegene administrative Aufwand sowie die Erwartungshaltung und teilweise fehlende Wertschätzung der Gesellschaft.
Gerade in Hofübergaben scheint viel Konfliktstoff zu stecken – wie erleben Sie diesen Prozess in der Praxis?
Rüegsegger: Das Thema ist bei vielen Betrieben ein Knackpunkt. Ich stelle fest, dass diejenigen Bauernfamilien, welche sich eine gute Ausgangslage verschaffen, die möglichst früh den Prozess starten und mit allen Familienmitgliedern oder familienexternen Betroffenen aktiv eine Lösung suchen, erfolgreich aus diesem Prozess hervorgehen. Oft führen falsche Vorstellungen und Unausgesprochenes zu Missverständnissen oder der gewählte Ton zu Verwirrungen. Zuhören, Respekt, Toleranz und Loslassen sind Schlüsselkompetenzen und wichtige Begleiter einer erfolgreichen Hofübergabe.
Viele Landwirtinnen und Landwirte stehen kurz vor dem Ausbrennen – ohne es sich einzugestehen. Warum ist es in der bäuerlichen Kultur so schwierig, über Schwäche oder psychische Erschöpfung zu sprechen?
Rüegsegger: Ich versuche anhand eines Beispiels aus der Wertschöpfungskette der Land- und Ernährungswirtschaft dieses spannende Thema von einer etwas anderen Seite zu beleuchten: In den letzten Wochen hat mir ein Kadermitglied erzählt, dass sein Vater, ein aktiver Landwirt, zu ihm gesagt habe, «du hast als Geschäftsleitungsmitglied etwas oft und immer wieder Ferien». Wer für etwas brennt, aus Leidenschaft und mit Herzblut, muss sich mittel- und längerfristig Gedanken machen, wie man einen echten Ausgleich schafft. Ansonsten wird die Gesundheit ihre Antwort geben - oder spätestens bei der Hofübergabe wird man die Quittung für Versäumtes präsentiert erhalten.
Was kann das Sorgentelefon konkret tun, wenn jemand mit dem Rücken zur Wand steht – übermüdet, überfordert, krank, aber ohne Ausweg?
Rüegsegger: Unsere Teammitglieder hören zu, helfen Gedanken und Gefühle zu ordnen, unterstützen bei der Suche nach Lösungswegen und vermitteln Fachstellen. Wie ein Telefongespräch abläuft, ist sehr unterschiedlich. Ziel ist es, dass am Ende des Anrufes der Mut und die Motivation für einen nächsten Schritt überwiegen. Wichtig für das Team des BST ist, dass die Anrufenden oder in Not geratenen Bauernfamilien erst einmal den Mut haben, sich zu melden. Lieber früher als später die Nummer des BST wählen und das Anliegenbeziehungsweise die Sorge deponieren. Unser Team gibt jeder Person eine Chance. Anonym und niederschwellig – ganz nach dem Willen des Gründers und den aktuellen Verantwortlichen.
Wie schätzen Sie die Situation im Kanton Schaffhausen ein? Gibt es Besonderheiten in der Region, die sich in den Sorgen der Bäuerinnen und Bauern spiegeln?
Rüegsegger: Da die Anrufenden wie die abnehmenden Personen anonym bleiben, gibt es keine Statistik auf Stufe Kanton. Die Anzahl Anrufe je Monat und die Themen werden erfasst.
Was wünschen Sie sich für die landwirtschaftlichen Familien – gerade in Bezug auf seelische Gesundheit und soziale Entlastung
Rüegsegger: Innere Ruhe, Weitsicht und Geduld für die Weiterentwicklung des Betriebes, inklusive Familie! Vor allem aber faire Preise für unsere Produkte und mehr Respekt aus der Politik, sowie vermehrt Wertschätzung aus der Bevölkerung.
Das Angebot ist anonym, diskret und von Fachpersonen aus der Landwirtschaft betreut. Warum ist genau das entscheidend für die Wirksamkeit des Sorgentelefons?
Rüegsegger: Das BST ist unabhängig, niederschwellig und anonym. Das sind unsere Erfolgsfaktoren. Weil niemand vom Team etwas verkaufen oder eine Dienstleistung anbieten muss. Wir sind einzig den Schweizer Bauernfamilien verpflichtet
Was möchten Sie jemandem sagen, der nachts wach liegt, innerlich überfordert ist – aber sich noch nicht traut, zum Hörer zu greifen?
Rüegsegger: Mut tut gut und lohnt sich. Ein zum Teil riesiger Druck wird wegfallen und ein neues Gefühl begleitet die Person nach dem Anruf. Jede Person, die diesen Schritt wagt, ist (m)ein Sieger.
Obwohl die Anrufzahlen leicht zurückgehen, steigen die E-Mail-Beratung und die Gesprächsdauer. Was sagt das über die Tiefe der Sorgen aus?
Rüegsegger: Es zeigt die Veränderung in der Gesellschaft und im Bauernstand. Wir werden unser Angebot weiterentwickeln, mit neuen Formaten und für zeitgemässe Themen, die auch jüngeren Generationen entsprechen.
Das Sorgentelefon lebt von Spenden und Freiwilligenarbeit – was braucht es, damit es über die nächsten Jahre weiterleben kann
Rüegsegger: Mehr Sichtbarkeit in den Bäuerlichen Medien und bei unseren Partnern. Das BST in neuer Vereinsform bietet auch die Gelegenheit, dass jede Kirchgemeinde, Landfrauenvereine, Landis, Genossenschaften, Vereine etc. Mitglied werden können und so das Angebot mit Spenden, Aktionen oder Kollekten unterstützen.
Wie kann das Angebot insbesondere bei der jungen Generation sichtbarer gemacht werden – auch bei Hofübernehmerinnen und -übernehmern, die oft unter grossem Druck stehen?
Rüegsegger: Der Vorstand des BST ist auch mit jüngeren Mitgliedern bestückt. Wir sind gespannt, mit welchen Ideen sie uns im Gremium überraschen. Die sozialen Medien sind ein Thema. Wie wir die Hürde u.a. für junge Anrufende tief halten, diskutieren wir aktuell intensiv.
Was macht Ihnen Mut – trotz all der Schicksale, die über das Sorgentelefon erzählt werden?
Rüegsegger: Weder der Vorstand noch das Telefonteam des BST sind über die genauen Verläufe und Ausgänge der jeweiligen Schicksale informiert. Solange Menschen das Bedürfnis haben, beim BST anzurufen, weiss ich, dass unsere Arbeit Sinn stiftet und wirklich etwas bewirkt. Jeder einzelne Anruf, bei dem wir als Team etwas Positives erreichen und jemandem ein Stück Hoffnung oder Erleichterung geben können, gibt mir Mut, weiterzumachen.
Zudem motivieren mich der Schwung und die Tatkraft, die wir miteinander teilen, und der starke Zusammenhalt unter den Bauernfamilien. Die Freude, mit Tier und Natur zu arbeiten, die Jahreszeiten zu erleben und zu sehen, wie aus harter Arbeit und der Anbaubereitschaft einheimische Lebensmittel wachsen und die Vielfalt an Biodiversität - das gibt mir Kraft. Solange diese positiven Seiten überwiegen, empfinde ich es als echtes Privileg, mich für die Schweizer Landwirtschaft einzusetzen.