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Gesellschaft
14.10.2025
13.10.2025 14:28 Uhr

«Beim Digitalkonsum lassen Eltern zu viel durchgehen»

«Das Gehirn ist ein Muskel, der trainiert werden will», sagt Rüdiger Maas. «Wir wissen, dass das analoge Lernen immer besser ist als das digitale.»
«Das Gehirn ist ein Muskel, der trainiert werden will», sagt Rüdiger Maas. «Wir wissen, dass das analoge Lernen immer besser ist als das digitale.» Bild: Pixabay
Psychologe und Generationenforscher Rüdiger Maas hat an der Kantonaltagung der Lehrpersonen im Kanton Schaffhausen gesprochen. Im Gespräch mit dem «Bock» erklärt er, warum er sich mehr analogen Unterricht wünscht und weshalb Eltern Smartphones so lange wie möglich von ihren Kindern fernhalten sollten.

Bock: Wir haben den Opa, der ChatGPT kaum aussprechen kann. Den Vater, der glaubt, mit Facebook-Posts sei er digital ganz weit vorne. Und die Tochter, die über beide den Kopf schüttelt und TikTok-Videos schaut. Gab es jemals grössere Gräben in der technischen Nutzung als heute? 
Rüdiger Maas: Das Spannende ist ja, dass wir über diese Medien kommunizieren. Der Opa kommuniziert heute ganz anders als die Enkelin. Beim Telefonieren gab es diese Unterschiede noch nicht. Und dann konkurrieren der Opa oder Papa plötzlich mit der Jugendlichen, weil sie im gleichen Wirkraum, in der gleichen digitalen Lebenswelt agieren.

Und da liegt Konfliktpotenzial.
Maas: Ein Konflikt wäre ja noch schön. Viel eher spricht man aneinander vorbei. Wir suchen einander, aber finden uns nicht. Wie in einem grossen Parkhaus, wo jeder auf einer anderen Ebene steht.

Was macht das mit unserer Gesellschaft?
Maas: Es herrscht ein grosses Unverständnis, man regt sich übereinander auf. Wenn der Vater plötzlich ein Video der Tochter kommentiert, weiss die damit gar nichts anzufangen. Eltern versuchen, diese Kommunikation zu erzwingen. Aber das wäre, als hätten sich unsere Eltern früher im Jugendtreff einfach dazugesetzt und mitgeredet.

Was sollen Eltern stattdessen tun?
Maas: Sie sollten sich viel mehr in der analogen Welt mit den Kindern beschäftigen, das Handy öfters weglassen. Gleichzeitig müssen sie digital kompetenter werden und diese Kompetenzen an ihre Kinder weitergeben.

Aber sind die Jugendlichen hier denn nicht schon viel weiter?
Maas: Nein. Die Jugendlichen haben die geringste Digitalkompetenz. Nur weil ich den ganzen Tag ins Handy starre, weiss ich noch lange nicht, wie es funktioniert, wie man Fake News erkennt, geschweige denn, wie man programmiert. Liken und Wischen können auch Schimpansen, das passiert intuitiv.

Sie haben mal gesagt: «Die Jungen sind in der analogen Welt überbehütet und in der digitalen vernachlässigt.» Lassen die Eltern hier zu viel durchgehen? 
Maas: Ja. Sie gehen zu naiv ran, lassen die Kinder einfach machen und unterschätzen die Wirkung und Gefahr. Das wäre, als hätten uns unsere Eltern in der Kindheit einfach Alkohol trinken oder rauchen lassen. Die Kinder bekommen viel zu früh einen digitalen Zugang. Man sollte Smartphones so lange wie möglich von den Kindern fernhalten. Stattdessen sollten wir den Kindern in der analogen Welt mehr Freiheiten geben, damit sie merken: Da kann man auch viel erleben.

Da ist aber noch dieser soziale Druck: «Die anderen Kinder haben alle auch ein Handy.» Wie geht man damit um?
Maas: Diese Aussage lasse ich nicht gelten. Wenn alle Kinder Bier trinken, dann gebe ich meinem Kind trotzdem keines. Man hat die Kinder heute so sozialisiert, dass sie machen sollen, was alle machen, um ihnen dann gleichzeitig noch eine egozentrische Sicht zu suggerieren. Davon müssen wir wieder wegkommen.

Die Arbeitswelt ist je länger, je mehr KI-geprägt. Muss man die Jugendlichen denn nicht darauf vorbereiten?
Maas: Doch. Aber auch hier gilt, je stärker mein analoges Rüstzeug ist, desto besser komme ich in der digitalen Welt zurecht. Dazu habe ich eine kleine Anekdote eines Kollegen: Sein Sohn erhielt erst mit 19 Jahren einen Laptop beziehungsweise einen digitalen Zugang. Und heute ist er ein Spitzenprogrammierer bei Microsoft. Er begegnete dieser Welt eben mit einem anderen Reifegrad. 

Trotzdem arbeiten auch die Schulen schon früh mit Tablets, nutzen Lernapps zum Beispiel fürs Rechnen oder zur Leseförderung. Für viele Kinder ist es ein Motivator, wenn sie auf dem iPad arbeiten dürfen. Lernen sie dabei auch mehr?
Maas: Nein. Wir wissen, dass das analoge Lernen immer besser ist als das digitale. Wir wissen auch, dass die Motivation am Tablet zu lernen etwa zwei Wochen anhält, danach lenkt es nur noch ab und der Digitalkonsum steigt. Je mehr wir googeln, desto oberflächlicher werden wir. Je mehr wir ChatGPT nutzen, desto bequemer werden wir. Das Gehirn ist ein Muskel, der trainiert werden will.

Was raten Sie den Lehrern?
Maas: Ich schlage ihnen immer ein Experiment vor. Sie sollen eine Lektion komplett digital gestalten und eine andere komplett analog. Nach einigen Wochen sollen sie die Jugendlichen fragen, von welcher Lektion mehr hängen blieb. Ich garantiere Ihnen: Es ist immer die analoge.

Die Digitalisierung ist da, wir können nicht mehr zurück. Unsere Generation kennt die Zeit ohne Smartphones aber noch und wünscht sie sich manchmal zurück. Die Jugendlichen wissen aber kaum noch, wie es ohne war. Wie kann ihnen abschalten trotzdem gelingen? 
Maas: Die digitalen Wirkräume werden immer grösser. Entsprechend werden wir passiver und uns fehlt das Gefühl, unsere Umgebung aktiv mitzugestalten. Aber: Wir haben Studien mit Jugendlichen gemacht – auch in der Schweiz. Die Mehrheit von ihnen sagt, dass soziale Medien die Gesellschaft schlechter machen, dass sie sich sogar eine Altersbeschränkung wünschen würden. Viele Jüngere haben gar nicht mehr die Muse, ein Buch zu lesen. Wir sollten uns die Zeit nehmen, es ihnen wieder beizubringen.

Rüdiger Maas hat mehrere Bücher zum Thema geschrieben, darunter «Konflikt der Generationen» oder «Das digitale Dilemma».

Dr. Rüdiger Maas ist Psychologe und Generationenforscher. Er ist Experte für Arbeits- und Organisationspsychologie und hat mehrere Studien dazu veröffentlicht. Zuletzt darüber, wie die jungen Schweizer ticken. Bild: zVg.
Claudia Riedel, Schaffhausen24