Er riss den Mantel entzwei und gab die eine Hälfte einem frierenden Bettler. Das dürfte wohl die bekannteste Geschichte über Sankt Martin von Tours sein. Vielleicht ist es aber auch diese: Als er, der bescheidene, barmherzige Mann, auf Wunsch der Bevölkerung zum Bischof gewählt werden sollte, versteckte er sich in einem Gänsestall. Nur: Das Schnattern der Tiere verriet seinen Aufenthaltsort.
Letzteres glaubt man ohne zu zögern, wenn man in Oberhallau auf der Wiese von Corinne und Jürg Baumann steht, auf der sich gut 20 bis 30 Gänse tummeln. Schnatternd und flatternd bewegen sie sich in der Gruppe hin und her, kommen neugierig näher, gehen dann wieder watschelnden Schrittes weg, planschen in ihrem grosszügigen Becken und drehen noch eine Runde.
Dass sich Baumanns solche Tiere zugelegt haben, hat auch mit dem Fest des Heiligen Sankt Martins zu tun. Am Anfang, im Jahr 2013, so erzählt Corinne Baumann, stand eine Gruppe von Studenten der Berner Fachhochschule mit einer These: Dass die Martinsgans auflebt. Dass am 11. November eine Gans auf den Tisch kommt, hat nebst der Legende des Versteckens im Stall einen rein Weltlichen Hintergrund: Der Tag war jener, an dem das bäuerliche Wirtschaftsjahr endete. Zinsen und Steuern wurden bezahlt – und Tiere geschlachtet. Beispielsweise Gänse, die dann eben entweder in Zahlung gegeben oder selbst gegessen wurden, um sie nicht über den Winter füttern zu müssen. Bekannter ist der Brauch etwa in Deutschland oder in Polen, in der Schweiz ist er eher ein Exot. Und das ist sie nach wie vor; die These der Studenten hat sich nicht bestätigt. Die Nachfrage ist bei Baumanns um Weihnachten herum am grössten.
Gänse und Trüffel
Aus dem studentischen Projekt erwuchs der Verein «weidegans.ch», der sich Regionalität, Nachhaltigkeit und Qualität auf die Fahne (und auf sein Label) geschrieben hat. Baumanns sind ausserdem seit 2018 biozertifiziert. Allerdings: In der Schweiz werden nicht genügend Gänse im Bio-Bereich gezüchtet, um den gesamten Bedarf abzudecken. Baumanns versuchen deshalb jedes Jahr so viele eigene Hofgänsen wie möglich selbst zu ziehen. Die restlichen Gössel werden bei Dritten eingekauft – und müssen innerhalb der ersten 24 Stunden auf dem Bio-Hof eintreffen. Denn das erste Futter, dass sie zu sich nehmen, muss Bio sein.
Wenn sie noch klein sind, sind die Tiere im warmen Stall. Danach verbringen sie einen Grossteil des Tages draussen. Sie fressen, worauf sie Lust haben; beispielsweise die Kastanien, die von den Bäumen auf der Weide fallen, aber hauptsächlich Gras. Glücklicherweise graben die Tiere nicht: Bei Baumanns leben sie auf einer Weide mit den Trüffelbäumen. Das sind Hagebuchen, Eichen, Hasel und Linden, die mit Trüffelsporen geimpft wurden – und entsprechend günstig sind für das Wachstum des Edelpilzes. Aber eben: Der Trüffel wächst sicher im Boden und die Gänse picken darüber hinweg.
Gehören zum Dorfbild
Die Gänse viel draussen zu halten sei eine Frage der Ideologie, sagt Baumann. Nachts kämen die Tiere zwar in den Stall auf der Weide – aber nur, um sie vor dem Fuchs oder anderen Räubern zu schützen. Dass sie ansonsten draussen ein angenehmes, nicht eingepferchtes Leben verbringen können, sei ihr wichtig.
Und: «Sie gehören ins Dorfbild», sagt Baumann. Oft bleiben Leute stehen, um der schnatternden Schar zuzusehen, Kinder freuen sich ob dem Anblick und die Gänsebesitzerin wird auch immer wieder einmal auf die besonderen Tiere angesprochen.
Viel Stammkundschaft
Dabei thematisiert sie auch, was mit den Gänsen passiert, wenn sie im November plötzlich nicht mehr auf der Weide zu sehen sind: Sie werden geschlachtet. «Wir verladen sie selbst und fahren sie zur Metzgerei.» Fünf Tage danach kommen sie tiefgefroren zurück.
Baumanns verkaufen die Tiere im Ganzen, drei bis fünf Kilo wiegen sie geschlachtet. Etwa 80 Prozent der Kundschaft hole schon seit Jahren jeweils eine Weihnachtsgans. Und auch bei der Halterfamilie selbst wird gerne Gans gegessen. Im Ofen, mit Bier, Whiskey oder Wein übergossen, gefüllt oder im Sommer auch mal auf dem Grill: Die Zubereitungsmöglichkeiten seien vielfältig. Ein Tipp von der Expertin: Pro Kilo rechne man bei 160 bis 180 Grad mit einer Stunde Garzeit. Das Fleisch sei nicht so fasrig wie Huhn, sondern zart.
Afrikanische Höckergänse
Gänsen sagt man nach, dass sie besonders gute Wachtiere sind. «Sie sind unbestechlich», sagt Baumann. Kann man einen Hund vielleicht noch mit einem Wurstzipfel besänftigen, kennt die Gans keine Gnade. Jene Tiere, die auf der Weide sind, seien allerdings noch zu jung, um Geschlechts- und Wachtrieb zu entwickeln, erklärt die Halterin.
Anders sieht es da bei den Afrikanischen Höckergänsen aus, die bei Baumanns auf dem Hof, oder direkt auf einer Weide neben dem Pferdestall zuhause sind. «Sie spüren genau, ob jemand zögert und hierhergehört.» Während Baumann völlig entspannt zu den Tieren hingehen und ihnen Apfelstücke zuwerfen kann, würden sie bei einer fremden Person nicht nur laut werden, sondern auch angreifen.
Im Frühling sind diese Gänse, die sich durch einen Höcker auf dem Schnabel und einen – wenn man so despektierlich sein will – schwabbeligen Teil unten am Hals auszeichnen, auch gerne einmal im Dorf unterwegs. «Wenn wir in Oberhallau Stau haben, ist das meist wegen unserer Gänse», meint Baumann lachend. Denn die Tiere sind nicht nur lustig anzusehen, sie sind durchaus auch selbstbewusst – und scheuen sich nicht, sich einem Linienbus in den Weg zu stellen, wenn ihnen danach ist. Kein Wunder, dass die besonderen Tiere auch in der Welt der Sagen und Legenden so eine grosse Rolle spielen.