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Gesellschaft
20.09.2021

«Ich bin ein Stehaufmännchen»

Andy Auerhammer vor seiner Garage und dem Pneucenter in Marthalen.
Andy Auerhammer vor seiner Garage und dem Pneucenter in Marthalen. Bild: Yves Keller, Schaffhausen24
Er kämpfte als Kind in Indien fünfeinhalb Jahre auf der Strasse ums Überleben. Später kam er als Adoptivkind in die Schweiz und baute als junger Mann sein eigenes Pneucenter auf. Nach einem Töffunfall lag er vier Tage in einem Koma und überlebte einen Herzinfarkt. Das bewegte Leben des Andy Auerhammer.

«Meine Eltern in Indien waren wohlhabend. Wir hatten ein grosses Haus, Ländereien, Lastwägen und ein Carunternehmen, uns ging es gut», erinnert sich Andy Auerhammer an seine jüngste Kindheit. Sein Vater Inder, die Mutter Engländerin, vier Geschwister, hinter dem Haus ein Wald und ein See. Die idyllische Kindheit währte jedoch nicht lange. Als der lebensfrohe Bub fünf Jahre alt war, verstarb seine Mutter an Magenkrebs, was das Leben der Familie fundamental veränderte. Der Vater heiratete bald eine neue Frau, die eigene Kinder in die Beziehung brachte und Andy Auerhammer und seine Geschwister fortan im wahrsten Sinne des Wortes «stiefmütterlich» behandelte: «Sie schikanierte uns regelmässig und gab uns weniger Essen als ihren leiblichen Kindern. Unser Vater kaufte uns manchmal auswärts heimlich zusätzliches Essen, um uns zu helfen. Sie ändern konnte er aber auch nicht, er war ihr hörig.» Für die Kinder war diese Situation so belastend, dass Andy Auerhammer sich irgendwann entschloss, von zu Hause davon zu laufen. Kurz darauf wurde er gefunden und wieder zur Familie zurückgebracht, nur um wenig später wieder abzuhauen. Dieses Mal definitiv. Seinen Vater und seine Geschwister sah er seither nie wieder. 

Das brutale Strassenleben

«Ich habe keine Ahnung, wo ich überall war, ich fuhr einfach viel mit dem Zug umher. Schwarzfahren ist in Indien deutlich einfacher als hier», erklärt Andy Auerhammer. Auf der Strasse zu leben, stellen sich wohl die meisten als schwierig vor. Nur in Indien sei dies nochmals ganz anders, betont er: «Es war jeden Tag ein Kampf ums Überleben. Ich schlug mich auf den Strassen durch, versuchte Problemen aus dem Weg zu gehen, bettelte und suchte in den Abfalleimern nach etwas Essbarem.» Immer wieder sah er das nackte Elend. Er sah wie ein hungernder Bub eine Banane von den Gleisen holen wollte und ihm dabei vom abfahrenden Zug eine Hand abgetrennt wurde. Er sah, wie Bettelnde neben toten Hunden lagen und selber gegen den Hunger kämpften und er sah, wie brutal die Verhältnisse in indischen Gefängnissen waren. «Einmal wurde ich des Diebstahls verdächtigt und in einem Raum mit 60 anderen Insassen eingesperrt. In der einen Ecke verrichtete man sein grosses Geschäft, in der anderen das Kleine. Es stank und war eng. Ich fragte mich ständig, wie ich da lebend wieder rauskomme.» Nach ein paar Tagen wurde er aus der Zelle geholt und mit einem Auto weit weg von der Stadt, mitten in der Wildnis ausgesetzt. Er fand zurück in die Stadt und kämpfte sich weiter durch. Freunde hatte er kaum und meistens war er allein unterwegs: «Viele von uns waren Einzelgänger aus einem ganz einfachen Grund: Wenn du mit jemandem zusammen unterwegs bist, musst du das Essen teilen. Das konnte ich mir nicht leisten.» Wie erbarmungslos das Leben auf der Strasse war, zeigt auch die Geschichte, als er eines Tages eine Banknote fand. Mit dem Geld konnte er sich Essen und eine Decke kaufen. Am Abend legte er sich beim Bahnhof unter seiner neuen Decke schlafen: «Ich war vorsichtig. Das Wechselgeld, das ich noch hatte, klemmte ich zwischen meine ‹Füdlibagge›, damit es auch wirklich niemand stehlen kann, dann schlief ich glücklich ein. Am nächsten Morgen erwachte ich ohne Decke und ohne Geld. Alles war weg.»

«Es war jeden Tag ein Kampf ums Überleben.»
Andy Auerhammer

Die Wende

Rund fünfeinhalb Jahre lebte Andy Auerhammer in Indien auf der Strasse, bis er als Zehnjähriger in einem katastrophalen Zustand in ein Kinderheim von «Terre des hommes» kam. «Mein Fuss war von einem Unfall mit einer Petrollampe völlig vernarbt und die Narben heilten nicht richtig. Zudem hatte ich Tuberkulose und bekam im Heim jeden Tag eine Spritze.» Rund ein halbes Jahr wurde er aufgepäppelt. Und auch hier blieb er von dramatischen Ereignissen nicht verschont. Bei einem Streit um ein Glas Orangensaft, rammte ihm ein anderer Junge im Heim einen Bleistift ins Bein und traf eine Vene. «Das Blut spritzte nur so. Aber ich habe es überlebt und bekam mein Glas Orangensaft», lacht Andy Auerhammer heute darüber. Als er nach einigen Monaten im Heim zu Kräften kam, wurde er gefragt, ob er in eine neue Familie in der Schweiz aufgenommen werden wolle. Sofort habe er zugesagt, erinnert er sich. Am 16. Dezember 1981 landete Andy Auerhammer am Flughafen in Genf. «Da sah ich zum ersten Mal in meinem Leben Schnee. Alles war neu, aber es überforderte mich nicht. Ich nahm den Moment und begann mein neues Leben.» Seine Adoptiveltern und seine neue Schwester nahmen ihn am Flughafen in Empfang, die Schwester schenkte ihm ein Plüschtier. «Ich kannte das nicht, das Plüschtier fühlte sich für mich damals irgendwie eklig an, sodass ich es, kaum berührt, im hohen Bogen von mir wegwarf. Das war die erste Begegnung mit meiner neuen Familie.» Das nächste amüsante Missgeschick folgte kurz darauf. In Indien war es üblich, dass Menschen von tieferem Stand im Auto vorne auf dem Beifahrersitz Platz nahmen, während die höher gestellten hinten einstiegen. «Als wir dann vom Flughafen zum Auto gingen, stieg ich selbstverständlich zuerst vorne ein, bevor ich mich dann auf den Protest meiner neuen Eltern hin leicht verwirrt auf die Rückbank setzte.» In der Schweiz war für ihn alles neu. Die sauberen Strassen, die Gepflogenheiten, aber auch das Gefühl von Geborgenheit. «Ich fühlte mich sofort wohl hier und hatte dank meinen neuen Eltern eine wunderbare Kindheit und Jugend. Nur die Sprache konnte ich am Anfang nicht. In den ersten Wochen verständigte ich mich mit meiner Familie mit Händen und Füssen.» Die Sprache war nicht das einzige Problem. Andy Auerhammer besuchte in Indien, mit Ausnahme von den wenigen Monaten im Heim, nie eine Schule. Trotzdem kam er in Dachsen direkt in die zweite Klasse. «Irgendwie ging es und ich machte rasch Fortschritte. Ich war ja auch so noch zwei Jahre älter als die anderen Kinder in meiner Klasse. Wegen meiner Unterernährung in Indien war ich aber noch relativ klein und so fiel das gar nicht auf.» 

«Ich sprang dem Teufel schon einige Male vom Karren.»
Andy Auerhammer

Richtiger Schweizer

Schon am Anfang, als er in die Schweiz kam, integrierte sich Andy Auerhammer sofort in seinem neuen Wohnort Dachsen und auch die hiesige Mentalität machte er sich rasch zu eigen. Heute sagt er, der Mitglied der SVP ist: «Ich bin ein richtiger Schweizer mit einer typisch schweizerischen Lebenseinstellung.» Und was ist typisch indisch an ihm? «Meine Hautfarbe.» Ein Grinsen liegt auf seinem Gesicht. Heute ist er in einer glücklichen Partnerschaft und hat einen 14-jährigen Sohn. Über seine Vergangenheit spricht er offen und gefasst, in Indien war er seit seiner Adoption aber nie mehr. Und er will es auch nicht. «Ich weiss, wer ich war und wie das Leben da war. Ich will nicht mehr zurück. Ich glaube, es würde mich zerreissen, wenn ich da zurückgehen würde.» Groll habe er aber keinen und er schätze auch die Lebenserfahrung, die er aus seiner Zeit als indischer Strassenjunge gewann. «Meine Vergangenheit in Indien hat mich geprägt – aber in keinster Weise negativ.» Er sei durchaus dankbar für seine Vergangenheit, die ihn zu dem machte, der er heute ist. Offene Wünsche habe er heute nur wenige. «Ich würde gerne mit meiner Partnerin in einem Wohnmobil durch Skandinavien fahren. Und irgendwann schreibe ich meine Geschichte in einem Buch nieder.» Der Titel des Buches? «Stehaufmännchen.»

Yves Keller, Schaffhausen24