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Gesellschaft
09.12.2025

Gewalt hat viele Gesichter

Im Anschluss fand eine Podiumsdiskussion mit Vertreterinnen und Vertretern der internen  Meldestellen verschiedener Institutionen statt. Monika Schudel Ottiger (3.v.r.) hat moderiert. Links von ihr sassen Jasmin Scherrer (diheiplus), Hanspeter Fehr (Altra) und Gebärdensprachdolmetscherin Corinne Leemann. Rechts von ihr waren Olaf Hölscher (Stiftung Ungarbühl) und Lukas Wunderlich.
Im Anschluss fand eine Podiumsdiskussion mit Vertreterinnen und Vertretern der internen Meldestellen verschiedener Institutionen statt. Monika Schudel Ottiger (3.v.r.) hat moderiert. Links von ihr sassen Jasmin Scherrer (diheiplus), Hanspeter Fehr (Altra) und Gebärdensprachdolmetscherin Corinne Leemann. Rechts von ihr waren Olaf Hölscher (Stiftung Ungarbühl) und Lukas Wunderlich. Bild: Ginevra Lo Piccolo
Gewalt kommt in verschiedenen Formen vor: Sie kann sich in sexueller Belästigung oder Übergriffen äussern, aber auch in Form von psychischer und/oder physischer Gewalt auftreten. Die Aktionstage «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» zielen darauf ab, Gewalt sichtbar zu machen. Am 4. Dezember fand im Kronenhof eine Aktion der Behindertenorganisationen «Altra», «diheiplus» und «Ungarbühl» statt.

Für die Aktionstage «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» wird jedes Jahr einem Schwerpunkt festgelegt. In diesem Jahr wurde beschlossen, Gewalt gegen Frauen mit einer Behinderung verstärkt sichtbar zu machen. Um diese Problematik zu verstehen, muss zunächst der Begriff «Behinderung» präziser gefasst werden. Eine Behinderung kann sichtbar sein, zum Beispiel in Form von Mobilitäts-, Hör- oder Sehbehinderungen, aber auch unsichtbar, wie etwa bei psychischen oder kognitiven Einschränkungen. Monika Schudel Ottiger, Personalverantwortliche der «Altra» Schaffhausen, erklärt, dass Menschen mit Behinderungen häufiger von Gewalt betroffen sind und zugleich weniger Zugang zu Unterstützung und Justiz haben als Menschen ohne Beeinträchtigungen. Dies hängt auch mit der Art der Behinderung zusammen, denn je nach Form bestehen unterschiedliche Barrieren beim Zugang zu Beratung und Hilfe. Besonders gefährdet sind Frauen, die auf die Hilfe Dritter angewiesen sind. Sie erleben überdurchschnittlich oft Übergriffe oder Vernachlässigung und haben geringere Chancen auf wirksame Unterstützung. Laut Schudel Ottiger mangelt es zudem an Sensibilisierung und Schulung.

Zeit hinzuschauen

Die Aktion, vom 4. Dezember, im Kronenhof, «Gewalt hat viele Gesichter – wir schauen hin» verfolgte das Ziel ein Bewusstsein zu schaffen, zum genauen Hinsehen im eigenen Umfeld anzuregen und Ideen für den Umgang mit Grenzverletzungen in Machtverhältnissen zu vermitteln. Unter anderem wurden folgende Fragen diskutiert: Wie übernehmen Institutionen für Menschen mit Behinderung ihre Verantwortung im Umgang mit Gewalt und Grenzverletzungen? Und wie arbeiten ihre internen Präventions- und Meldestellen? Schudel Ottiger betont, dass sich Institutionen ihrer grossen Verantwortung bewusst sind.

Nützliche Instrumente

Die Institutionen orientieren ihre professionelle Arbeit an der «Präventionscharta», die zehn Grundsätze umfasst – etwa zu Präventions- und Interventionskonzepten. Verbände, Institutionen und Organisationen, welche die Charta unterzeichnen, verpflichten sich zu diesen Grundsätzen. Monika Schudel Ottiger erklärt, wie die Charta in der Praxis eingesetzt wird:

• Schlüsselrolle Personal: Bei der Rekrutierung von Fachpersonen verlangen die drei Institutionen einen Sonderprivatauszug, einen Strafregisterauszug sowie eine Bestätigung, dass kein laufendes Strafverfahren besteht. Zudem wird zwingend eine Referenz eingeholt und konkret nach möglichen Verdachtsmomenten zu Grenzverletzungen am vorherigen Arbeitsort gefragt.

• Einrichtung interner und externer Meldestellen

• Stärkung der Selbstkompetenz von Menschen mit Behinderung

Ein weiteres wichtiges Instrument zur Prävention und Bearbeitung von Grenzverletzungen ist der «Bündner Standard». Er wird jeweils an die Bedürfnisse der jeweiligen Organisationen angepasst und kann daher nicht einfach übernommen werden. Der Standard hilft dabei, Grenzverletzungen zu erfassen, nach Schweregrad zu beurteilen und einen professionellen und transparenten Bearbeitungsprozess sicherzustellen, sowie auch Reflexionsfragen aufzustellen, die individuell beantwortet werden können. Er gebe allen Beteiligten mehr Sicherheit im Umgang mit einem hoch emotionalen Thema.

«Ich muss nicht alles auf meinen Schultern tragen, ich darf mir auch Hilfe holen.»
Jasmin Scherrer - Interne Meldestelle «diheiplus», zititerte einen Bewohnenden.

Beispiele aus dem Alltag

Referent Lukas Wunderlich, Sozialpädagoge mit Spezialisierung auf Krisenintervention und Konfliktmanagement, erläutert, dass Schaffhausen einer der führenden Kantone im Bereich Gewaltprävention in Institutionen ist. Vor Ort waren auch Vertreterinnen und Vertreter der internen Meldestellen von Institutionen, die erzählt haben, was sie konkret machen, um Unterstützung anzubieten. Olaf Hölscher, von der Stiftung «Ungarbühl», hat erzählt, wie wichtig es ist, Berührungsängste abzubauen, sodass sich die Leute mehr trauen, auf ihn zuzukommen. Das bewirke er dadurch, dass er überall in die Institution hineinschaue und auf die Menschen zugehe. Auch für Jasmin Scherrer, von «diheiplus», ist es eine Herausforderung, nicht als «die vom Büro» erkannt zu werden. So hat sie selber ein Aufklärungsbüchlein in einfacher Sprache erstellt, mit dem sie interne Schulungen mit Klientinnen und Klienten und Arbeitenden durchführt. Sie hat auch Stimmen der Schulungsteilnehmenden gesammelt. Besonders berührend war für Sie, als eine der Bewohnenden realisiert hat: «Ich muss nicht alles auf meinen Schultern tragen, ich darf mir auch Hilfe holen.» Hanspeter Fehr, von der Meldestelle der «Altra», erklärt, dass sie nebst einem «Bündner Standard» ebenfalls einen Verhaltenskodex erstellt haben. Dieser ist für Klientinnen und Klienten sowie für Mitarbeitende auch in «Leichter Sprache» verfügbar.

Das Unmögliche in Betracht ziehen

Schudel Ottiger weist jedoch darauf hin, dass für die Umsetzung dieser Präventions- und Schutzkonzepte häufig finanzielle und personelle Ressourcen fehlen. Um das Bewusstsein für Gewalt an Frauen – insbesondere an Frauen mit Behinderungen – in der Gesellschaft nachhaltig zu stärken, müssen ausreichende Mittel bereitgestellt werden: für barrierefreie Unterstützung, für Öffentlichkeitsarbeit und für Sensibilisierung. Was aber können Einzelpersonen tun, um im eigenen Umfeld besser hinzuschauen und Betroffene zu unterstützen? Laut Schudel Ottiger sollten Menschen im Alltag auch das Unmögliche als realistisch ansehen – denn Gewalt passiert. Wichtig sei es, aufmerksam zu sein, Unterstützung anzubieten und sich im Alltag auch im Kleinen zu engagieren.

Was bedeuten die Aktionstage?

Die Kampagne «16 Days of Activism Against Gender Violence» wurde 1991 von der Organisation «Women’s Global Leadership» ins Leben gerufen. Im Jahr 2008 initiierte die feministische Friedensorganisation «Frieda» die ersten 16 Aktionstage in der Schweiz. Heute wird die Kampagne schweizweit durchgeführt. In Schaffhausen werden die Aktionstage von der Fachstelle für Gleichstellung, Gewaltprävention und Gewaltschutz koordiniert. Der Zeitraum erstreckt sich vom 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, bis zum 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte. Dieser Zeitraum ist bewusst gewählt, um noch einmal zu unterstreichen, dass Frauenrechte Menschenrechte sind und geschlechtsspezifische Gewalt immer eine Menschenrechtsverletzung darstellt. Ziel dieser Aktionstage ist es, Informationen zu bestehenden Unterstützungs- und Beratungsangeboten zu vermitteln und Workshops zu verschiedenen Themen, wie beispielsweise Selbstverteidigung, anzubieten. Grundsätzlich geht es aber darum, sich für eine gewaltfreie Gesellschaft einzusetzen.

«Präventionscharta»

2011 haben zwölf Verbände, Organisationen und Institutionen die Charta zur Prävention sexueller Ausbeutung, sexuellen Missbrauchs und weiterer Grenzverletzungen unterzeichnet und öffentlich vorgestellt. Darin sprechen sie sich für eine Politik der Null-Toleranz aus und legen den Schwerpunkt auf das Personal sowie auf die Stärkung von Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf. Die Charta zur Prävention enthält zehn grundlegende Prinzipien, die sich auf die Bereiche Präventions- und Interventionskonzept, die zentrale Rolle von Leitung und Mitarbeitenden, die Zusammenarbeit mit internen und externen Fachstellen sowie die Förderung von Personen mit Unterstützungsbedarf beziehen.

Mehr Informationen: insos.ch/Fachwissen/Charta-Praevention/PorFH

«Bündner Standard»

Der Bündner Standard ist ein Instrument zur Prävention sowie zur strukturierten Erfassung und professionellen Bearbeitung von Grenzverletzungen im organisierten Kontext.

Seine Anwendung ist in Sportvereinen, Kirchen, Regelschulen oder Altersheimen möglich und verfolgt folgende Visionen:

• Schutz der Integrität aller Personen, die im institutionellen 
und organisierten Kontext aufeinandertreffen

• Minimierung von Überschreitungen von Grenzen

• Gewährleistung einer Handhabung bei Grenzverletzungen

• Professionelle Bearbeitung von Vorfällen, die Grenzüberschreitungen betreffen.

Mehr Informationen: buendner-standard.ch

Ginevra Lo Piccolo, Schaffhausen24
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