«Ihr Auftauchen ist zwar häufig, aber absolut nicht vorhersehbar. Manchmal erscheinen sie dreimal am selben Tag, um sich dann gut und gerne eine volle Woche nicht mehr blicken zu lassen», erzählt Julia Jaeger während der Besichtigung der Ess- und Schlafplätze der Rehe im eigenen Garten. Der ungewohnte Besuch der Tiere in besiedeltem Gebiet sei ein Highlight und eine Freude für die ganze Familie. «Wenn die Tiere am frühen Morgen erscheinen, kann ich den beiden Töchtern nicht wie bei einem Buch oder Film sagen, dass sie nach der Schule weiterlesen oder -schauen können. Die Kinder kleben dann an der Scheibe und würden am liebsten bleiben und noch nicht in die Schule aufbrechen», sagt Jaeger schmunzelnd.
Thema Tiere seit der Kindheit wichtig
Jaeger habe bereits in ihrer Kindheit Wildtiere, wie Ringelnattern, Kröten, Tannenmeisen, Igel, Fledermäuse sowie echte Vampire gepflegt und teilweise auch aufgezogen – nebst eigenen Haustieren wie etwa einem Dackel. «Meine Mutter wuchs in Australien auf. Dort kümmerte sie sich einst um ein junges Känguru. Damit wurde sozusagen der Grundstein zu meiner Tierliebe schon gelegt.» Lernbereitschaft und Erfahrung führten dazu, dass Julia Jaeger gebrochene Flügel mit Zündholz und Leukoplaste erfolgreich geschient hatte. Ausser bei der Tannenmeise sei zudem nach der Genesung die Auswilderung geglückt.
Beruflich hat sie hingegen nur indirekt mit Tieren zu tun. Als ausgebildete Fremdsprachenkorrespondentin war sie unter anderem im Zoologischen Garten Berlin tätig und gab in derselben Stadt bis 2008 Englischunterricht auf Gymnasialstufe. Heute arbeite sie noch als Übersetzerin. Zu ihren Hobbies gehören Fledermäuse, Pilze sammeln, zeichnen, schreiben und reisen.
Keine Haus - dafür Gartentiere
«Da wir durch regelmässige Reisen nach Berlin Ferienbetreuung benötigen würden, und sich das momentan als zu schwierig gestaltet, besitzen wir leider keine Haustiere. Aber wir haben ja als Kompensation die Rehe, welche Selbstversorger sind.» Zu allen Tages-, Nacht- und Jahreszeiten würden die sehr scheuen Vierbeiner mit dem treuherzigen Blick im Garten erscheinen. Bei Schneefall würden sie unter ausladenden Bäumen und Sträuchern Schutz suchen. Bei gutem Wetter sei es möglich, dass jemand aus der Familie ein einzelnes Tier sieht – oder gar eine Ricke mit ihren Kitzen – das es sich auf der Wiese gemütlich macht und je nachdem auch ein Mittagsschlaf hält. Meistens würden zwei bis drei Rehe zusammen auftauchen. «Wir trafen aber auch schon vier und einmal sogar fünf dieser Fluchttiere bei uns hinter dem Haus an», so Jaeger. Nach der Ruhepause würden die Rehe sich dann ausgiebig putzen, recken und strecken. «Nach einem Sprung über den Zaun, und das ohne Anlauf, springen sie ins Dickicht am Hang und verschwinden wieder Richtung Mühletal-Waldstreifen», erklärt Julia Jaeger.
Der Kreislauf des Lebens
Nebst Gräser lieben Rehe zudem Kräuter, Blätter, junge Triebe und Knospen. Als sogenannte Konzentratselektierer bevorzugen sie nährstoffreiche, eiweisshaltige und leicht verdauliche Pflanzen. Darunter fallen Brombeeren, Himbeeren, Raps und bestimmte Baumarten. Rehe steuern gezielt Pflanzen an, die besonders süss oder salzig sind. Giftige Pflanzen wie Eibe oder Tollkirsche meiden sie, wie der Teufel das Weihwasser, und sind im Herbst besonders auf Früchte, Kastanien und Eicheln aus. Wenn die Nahrung knapper wird, weichen sie zudem auf Baumrinde aus. Das Füttern der Tiere ist nicht nur meistens verboten, weil es Abhängigkeiten schaffen kann, sondern weil beispielsweise mehlhaltige Lebensmittel oder auch Möhren schädlich sind.
Bei Jaegers sieht man die Folgen der felligen Besuche. «Bereits einige unserer Pflanzen sind der Gefrässigkeit der Rehe zum Opfer gefallen. Sie konnten sich nicht mehr von den Bissen erholen. Unterdessen haben wir 180 Zentimeter hohe Zäune, um die Pflanzen in kritischem Zustand, aufgestellt. Leider kamen sie einen Tick zu spät», sagt Jaeger.
Hin und wieder stolziere ein Bock über die Wiese. Er sei gerade auch nicht bei bester Gesundheit. Seit einigen Wochen müsse er mit einem gebrochenen und herunterhängenden Vorderlauf, sowie einer Verletzung an Hals und Schulter zurechtkommen. Er habe weiterhin einen guten Appetit auf Efeu und Herr Stauffacher, der oberste Wildhüter des Kantons, sei über die Situation informiert worden. «Beim eifrigen Essen strahlt der Bock noch Lebenswillen aus.»
Die «Bock»-Leserinnen und -Leser seien gebeten, einen toten oder nicht mehr stabil herumhumpelnden Bock dem Wildhüter zu melden. Aktuell schaffe er es noch auf wundersame Weise aus dem Stand über den Zaun in die Böschung zu springen – ohne dabei umzufallen und den Hang hinunterzustürzen.
Das Haus der Familie hat sich über die Jahre zu einem «ethologischen Hobby-Zentrum» gewandelt, wobei die Fenster für die Beobachtung zentral sind. Denn ein Schritt aus dem Haus treibt die Rehe in die Flucht. «Mit einem lauten, abgefahrenen Geräusch warnen sie die Anderen bevor sie gemeinsam türmen», so Julia Jaeger.
Ein Highlight sei gewesen, als die Mutter mit ihren Kleinen auftauchte und die Jungen sich das erste Mal getraut haben, mit ihr über den Zaun zu springen. «Wir stehen dann gebannt an den Scheiben und zittern bei der Vorstellung, dass ein Kitz womöglich hängen bleibt und sich dabei verletzt».