Andrea Külling ist gelernte Primarlehrerin und arbeitet seit acht Jahren im Kindergarten, ein Beruf, der ihr viel bedeutet: «Ich liebe es, mit meinen selbst geschriebenen Geschichten und Liedern zu arbeiten. Der Kindergarten bietet Raum zum Ausprobieren, das inspiriert mich sehr.» Nebenberuflich widmet sie sich dem Schreiben von Kinderbüchern, von denen bereits drei veröffentlicht wurden. Ihr Weg zur Schriftstellerin war nicht geplant. «Ich habe nie gedacht, dass ich unbedingt ein Buch schreiben müsste, es hat sich einfach so entwickelt.» Als sie Mutter wurde, fing sie an, CDs mit musikalisch begleiteten Geschichten aufzunehmen. «Das wurde wegen des Urheberrechts kompliziert, so habe ich beschlossen, meine eigenen Geschichten zu schreiben.» Lange traute sie sich das nicht zu, bis im Herbst 2019 wie aus dem Nichts die Idee zu ihrem ersten Buch «Überfall aufs Samichlaushaus», das 2021 erschienen ist, entstand. «Die Geschichte ist wie eine Explosion aus mir herausgekommen. Es hat sich wie ein Traum angefühlt», erklärt Andrea Külling. Dabei sei ihr klar geworden, dass sie doch zum Bücherschreiben fähig ist. Doch das Schreiben von Kinderbüchern ist kein Selbstläufer: «Im Gegensatz zum Roman, stehen einem bei Kinderbüchern nur wenige Seiten und Worte zur Verfügung. Es muss alles auf den Punkt gebracht werden», so Andrea Külling. «Über die Wortwahl muss man sich viele Gedanken machen. Ich brüte aber gerne wochenlang über einen Satz und tüftle an Titeln.» Besonders spannend findet sie die Zusammenarbeit mit Illustratorinnen und Illustratoren: «Das Zusammenspiel von Bildern und Text finde ich wahnsinnig interessant. Es ist fast wie ein Puzzle. Dabei gilt es zu überlegen, was die Bilder bereits zeigen und an welchen Stellen die Sprache bewusst zurücktreten kann.»
Von der Lücke zum eigenen Buch
Ihr 2023 erschienenes Buch «Willkommen im Restaurant» entstand aus einem praktischen Bedürfnis im Kindergartenalltag: «Ich wollte das Thema ‹Restaurant› behandeln und suchte ein passendes Buch, aber es gab keines. Die Buchhändlerin meinte, ich solle einfach selbst eines schreiben.» Andrea Külling ist durch ihren Beruf stets nahe an den Bedürfnissen von Kindern und wird so auf Marktlücken aufmerksam. Im Gegensatz zum ersten Buch war der Entstehungsprozess bei den darauffolgenden deutlich arbeitsintensiver. «Wahrscheinlich, weil ich inzwischen mehr Erfahrungen gesammelt habe und mir mehr Gedanken mache. Aber ich bin im Schreibprozess auch schneller geworden. Kreativität kann trainiert werden, und inzwischen habe ich Ideen wie auf Knopfdruck», ergänzt die Schaffhauserin.
Ein sensibles Thema kindgerecht erzählt
Der Entwicklungsprozess ihres zuletzt erschienenen Buchs «Jorin braucht eine Höhle» war nicht ganz linear: «Ursprünglich wollte ich ein Buch zum Thema ‹Gender› schreiben, doch ich musste feststellen, dass es nicht das Richtige für mich ist – nicht, weil ich das Thema nicht interessant finde, sondern weil ich ein persönlicheres Thema gesucht habe.» So ist ein Werk entstanden, das auf das Thema «Hochsensibilität» aufmerksam macht. «Es geht um Jorin, einen hochsensiblen Jungen, der mit seinem Grossvater einkaufen geht», erklärt Külling. Im Supermarkt gibt es viele Eindrücke, die auf ihn einprasseln. Jorin fühlt sich schnell überfordert. Nach dem Einkaufen ist Jorin sehr erschöpft, doch sein Grossvater bemerkt das nicht und hat deshalb weitere Pläne für den Nachmittag. Das ist für den Jungen zu viel. Jorin findet den Mut, seine Grenzen zu benennen. Der Grossvater hört zu und sie bleiben zu Hause und bauen gemeinsam eine Höhle. «Es geht darum, sich zu trauen, Grenzen für sich zu setzen und gehört zu werden. Gleichzeitig zeigt es, dass sensible Kinder ein sehr reiches Innenleben haben», erklärt die Kindergärtnerin. Das Thema Grenzen setzen betrifft auch Jugendliche und Erwachsene: «Man sagt, jede fünfte Person sei hochsensibel. Aber auch Menschen, die nicht hochsensibel sind, werden in der heutigen Zeit dermassen mit Informationen bombardiert, sodass es ihnen schnell zu viel werden kann.» Ein achtsamer Umgang mit Gefühlen, die Notwendigkeit von Pausen, das Setzen von Grenzen und die «Fomo» (vom Englischen «Fear of missing out» – Angst, etwas zu verpassen) sind hochaktuelle Themen. Die Entscheidung, Jorin mit seinem Grossvater loszuschicken, war bewusst gewählt: «Ursprünglich wollte ich, dass die Mutter Jorin beim Einkaufen begleitet. Jemand wies mich darauf hin, dass es unrealistisch ist, dass eine Mutter nicht merkt, wenn es ihrem Kind schlecht geht.» So wurde der Grossvater zur liebevollen Bezugsperson, die zuhört und lernt. Das Buch ist nicht ausschliesslich für hochsensible Kinder gedacht: «Ich wollte das Thema breit anlegen. Jeder Mensch braucht zwischendurch Rückzug und Pausen. Hochsensibilität kann erschreckend sein. Es geht aber eigentlich um etwas ganz Alltägliches: die eigenen Grenzen», ergänzt Külling.
Bilder und kulturelle Missverständnisse
Bevor man in die Geschichte von Jorin eintaucht, steht ganz am Anfang ein liebevolles Gedicht, das Andrea Külling selbst verfasst hat. «Es geht um meine Höhle, die für mich mein Mann ist. Er gibt mir Geborgenheit und Sicherheit.» Am Ende des Buches sind die Lesenden eingeladen, über ihre eigene Höhle nachzudenken. Das Kinderbuch wird von farbenfrohen Zeichnungen der Illustratorin Andrea Turk begleitet. Über den Baeschlin Verlag fanden die beiden zueinander. «Ich habe ihre Arbeiten gesehen und wusste: Sie passt perfekt zu meinem Buch.» Andrea Turk lebt in Nordirland und verbringt ihre Tage im Atelier, wo sie den ganzen Tag malt. Die Zusammenarbeit verlief gut, doch kulturelle Unterschiede sorgten für kleine Missverständnisse: «In einer Szene trug Jorin zu Hause Schuhe, für Schweizer Verhältnisse unüblich. Als ich sie bat, das zu ändern, war sie ganz erstaunt», erzählt Andrea Külling schmunzelnd.
Wenn Kinder sich wiedererkennen
Besonders berührend ist für Andrea Külling, wenn sich Kinder in ihren Büchern wiederfinden, wie etwa bei der Buchvorstellung, die am 24. September im Bücherladen Schoch stattfand: «Nach einer Buchvorstellung sagte ein Kind zu seiner Mutter: ‚Gell, Mami, das ist so wie bei mir!‘ Oder ein anderes fragte, ob ich das Buch über es geschrieben hätte. Das sind für mich die schönsten Momente.» Drei weitere Manuskripte hat sie bereits geschrieben, darunter eines für Jugendliche. «Das war sehr herausfordernd. Ich habe ein Jahr lang intensiv recherchiert. Aber ich liebe es, Neues zu lernen», sagt Andrea Külling. Sie scheut sich nicht vor schwierigen Themen: «Es ist ein gutes Gefühl, wenn man anfangs denkt: ‹Das schaffe ich nie› und am Ende hält man das fertige Buch in den Händen.» Für die kommenden drei Jahre plant sie die Veröffentlichung von diesen drei Büchern.